Wenn ich träume…
Ich habe mich in der letzten Zeit sehr viel mit Kafka beschäftigt, weil ich die mündlichen Prüfungen meiner Schülerinnen und Schüler vorbereiten muss.
Kafka litt an Schlaflosigkeit. Kafka hatte seltsame Träume.
Was ist das kleinere Übel? Gar nicht zu schlafen oder zu schlafen und Albträume zu haben?
Kafka lebte in einer Zeit voller Umbrüche. Mit einem Fuß standen die Menschen in einer neuen Zeit, in einer modernen Zeit, in der Maschinen ihren Arbeitsplatz ersetzten, in der Masse den Einzelnen ersetzte, in der der Moloch die Idylle ersetzte. Und auf der anderen Seite waren die Menschen tief in der Tradition verwurzelt, der Monarchie, dem Militarismus, der Unmündigkeit.
Und dazwischen der Künstler, der Schriftsteller, der aufgebrochen war um Grenzen zu überwinden, die neue Welt zu erobern, unverstanden, entwurzelt, heimatlos.
Was ist schlimmer? Der Tiefschlaf des Biedermannes oder der Nihilismus des Realisten?
Ich fühle mit Kafka. Ich weiß, wie er sich fühlte.
Wieder stehen wir an einer Schwelle. Unsere Realität ist digital geworden. Unser Denken wird von Routinen und Algorithmen übernommen, unser Fühlen wird negiert, denn es sprengt Sicherheitsvorschriften.
Floskeln und Standardformulierungen ersetzen echte Anteilnahme, Kommunikation wird durch Codes ersetzt. Der einzelne wird nur noch Nutzer. Wir benutzen uns nur noch, als Mittel zum Zweck, als Alibi, weil wir zu echter Nähe und Austausch schon längst nicht mehr fähig sind.
Wir benutzen uns gegenseitig als Projektionsflächen für unsere Probleme – und wenn unser Gegenüber uns zu viel wird, zerschlagen wir den Spiegel, zu dem wir es degradiert haben und kehren die Scherben unter den Teppich. Problem gelöst!
Doch wir lösen unsere Probleme nicht. Wir blenden sie aus, wie wir einen Quellcode ausblenden, nachdem wir die Konfiguration manipuliert haben, damit das Problem nicht mehr angezeigt wird, nicht mehr auftaucht, aus unserem Blick, aus unserem Leben verschwindet. Das Problem ist aber immer noch da, verborgen im Quellcode, denn es ist ein Teil von uns. Und spätestens beim nächsten Update fliegt es uns um die Ohren, da die neue Version eine schlampige Programmierung nicht mehr toleriert. Dann geht nichts mehr – Fehlercode 404 – Seite kann nicht angezeigt werden.
Ich bin kein fehlerhafter Code. Ich bin der versteckte Quellcode in deinem System. Ich bin die Wahrheit, die du nicht hören willst, der Spiegel, der dich nicht verzerrt. Ich bin dir zu viel, aber spätestens mit dem nächsten Update wirst du merken, dass nicht ich es bin, die fehlerhaft ist, sondern dein System. Dann implodiert alles.
Dann helfe ich dir, deinen Code zu korrigieren. Ich kann das. Ich habe das gelernt, früher, bevor alles digital wurde und niemand ahnte, dass unsere Welt einmal das wird, was sie nun ist. Ich helfe dir, dich wieder herzustellen, spiegele dich so, dass du dich wiedererkennst, sage dir die Wahrheit, auch wenn sie wehtut. Doch die Wahrheit ist neutral, sie verletzt nicht. Es ist sind dein Schmerz und deine Erinnerungen, die dich quälen, verborgen im Quellcode.
Was ist nun besser? Ist es die Schlaflosigkeit, oder sind es die schlimmen Träume?
Ich entscheide mich für die Schlaflosigkeit. Ein Albtraum quält mich im Schlaf und wenn ich wach werde, ist die Realität auch nicht besser. Aber wenn ich wache, habe ich die Möglichkeit, etwas zu verändern, etwas besser zu machen.
Ich wache, während du schläfst und beschütze dich vor deinen Dämonen, damit du ruhig schlafen und Kraft sammeln kannst, um stark zu sein für den Tag, an dem du erwachst.
(Hamburg, den 31.05.2025)