All-Tag
Die Tür steht offen und ich bin spät dran. Natürlich wurde ich aufgehalten.
Vorsichtig quetsche ich mich durch den Türspalt, darauf bedacht, weder mit meiner Schul- noch der Tragetasche hängenzubleiben. Meine Bücher und die Klassenarbeiten würden es zwar überleben – aber wie ich mein Glück kenne, reißt dann ein Griff und ich verliere mehr, als mir lieb ist.
Ich sehe mich um und ein Seufzer entfährt mir, denn einige Dinge ändern sich nie.
Als Erstes fällt mir Boris auf, der unter stoischer Maximallast einen kunstvoll geknäulten Stapel Arbeitsblätter gekonnt Richtung Papierkorb befördert. Keiner trifft, sehr zur Begeisterung Karins, die bereits eine Tirade fehlgeleiteter – aber wohlgemeinter – Belehrungsphrasen im Anschlag hat. Boris hebt nur teilnahmslos eine Augenbraue und stupst einen weiteren Papierball gegen die Wand. Ausgerechnet der landet im Eimer.
In der Fensterecke lungern Veronika und Jasmin und starren aufs Handy… Handy zum Ohr – Sprachnachricht – ein Grinsen – Frust. Veronika lächelt, Jasmin ballt die Fäuste. Tinder-Terror!
Basti pennt im Sessel. Ihm rinnt ein Speichelfaden aus dem Mund. Auf einem Stuhl vor ihm die verdreckten Motorradboots mit dem Morast der halben Pampa inklusive Füßen.
Frank und Chris zocken irgendein Ballerspiel gegeneinander. Henriette schaut ihnen mit verklärtem Blick dabei zu…wobei überhaupt? Es tut sich nichts. Nur die Daumen der Dudes zucken in sinnentleerten Reflexen über die speckigen Touchscreens. Die Szene ist ansonsten komplett in Ziellosigkeit erfroren – eine labile Statik digitalen Stillstands.
Torben, Jens und Michael führen an ihrem Tisch ein angeregtes Fachgespräch über die molekulardynamische Relevanz orbitaler Hybridisierung im amphoteren Aggregatzustand unter quantendiffusen Reaktionsbedingungen. Ich sehe, wie Kathrin schon in den Startlöchern steht, um bei passender Gelegenheit mit dem ultimativen Totschlagargument zu kommen, das ihr stets das letzte Wort und die Bewunderung der erlauchten Dreifaltigkeit sichert: dem Prinzip der metaphysischen Letztgültigkeit.
Und ich will doch eigentlich nur einen Kaffee und meine Ruhe!
Als ob der Kerl es geahnt hätte – kaum manifestiert sich das K-Wort in meinen neuronalen Irrgängen, ertönt auch schon die Stimme: „Frau Abendmahl, da sind Sie ja! Wir waren vor 15 Minuten verabredet. Schön, Sie zu sehen, gehen wir in mein Büro?“
Ich hasse das Lehrerzimmer!
