Schmerz
Der Schmerz ist der große Lehrer der Menschen. Unter seinem Hauche entfalten sich Seelen. (Marie von Ebner-Eschenbach)
Ich habe in den letzten Jahren und Monaten viel gelernt. Mehr als mir lieb war.
Und ich hatte nicht nur einen Lehrer.
Da war mein Lehrer nozizeptiver Schmerz. Er hat mich am längsten begleitet. Er stand auf einmal neben mir, als ich acht Jahre alt war und beim Herumtollen so gefallen bin, dass meine Kniescheibe verrutscht war. Nie werde ich unsere erste Begegnung vergessen, sie war einschneidend.
Von unserer ersten Begegnung an waren wir Weggefährten. Er wurde mein Beschützer, wenn er mich vor Schlimmerem bewahren wollte, vor Übermut, vor Überlastung und meiner Sturheit, aber er wurde auch mein erbitterter Feind.
Manchmal führte mich der nozizeptive Schmerz auf unserem Weg, trieb mir die Tränen in die Augen und ernährte sich von meiner Kraft, manchmal schaffte ich es, ihm durch Pillen, Spritzen oder Operationen ein Schnippchen zu schlagen und davonzulaufen, aber er holte mich immer wieder ein.
Seine Rache war grausam. Er ließ mir jedesmal Luft zum Atmen und gab vor, nun freundlich zu sein. Ich dachte, ich könnte ihn kontrollieren, beherrschen, bändigen, mit Tabletten, mit Therapien. Aber das war nur seine Täuschung. Sobald ich glaubte, ich hätte mir endlich Normalität aufgebaut, schlug er wieder zu – und jedesmal brutaler, gezielter, gnadenloser als zuvor.
Seit der letzten Operation ist wieder alles still. Selbst eine Stunde Ausdauertraining hat ihn nicht aus seinem Versteck gelockt. Aber er lauert. Er wartet – ein paar Tage, ein paar Wochen, ein paar Monate. Und dann schlägt er zurück. Es gibt kein Entrinnen, nur Pausen.
Jetzt fühle ich mich wie eine Siegerin, aber ich weiß, es ist nur eine Waffenruhe. Sobald ich müde werde, endet sie.
Der nozizeptive Schmerz kommt selten allein. Hat er sich einmal eingenistet, ruft er seine Freundin, den psychogenen Schmerz.
Während der nozizeptive Schmerz mit offenem Visier und dem Schwert in der Hand kämpft, kennt der psychogene Schmerz nur List und Hinterhalt.
Sie täuscht das System, gaukelt dem Körper vor, krank zu sein, zu leiden, treibt ihn in die Erschöpfung, aber in Wahrheit hat sie es gar nicht auf ihn abgesehen. Der psychogene Schmerz will nicht unseren Körper, sie frisst unsere Seele. Und sie tut furchtbar weh, denn während sie unsere Seele frisst, zerstört sie Stück für Stück auch unseren Körper.
Sobald der nozizeptive Schmerz die Barriere eingerissen hat, kommt der psychogene Schmerz und dringt in unser Gehirn ein, unser Bewusstsein, unsere Gedanken. Wir spüren Schmerz, wo keiner ist, wo keine Ursache ist, leiden scheinbar grundlos.
Der psychogene Schmerz ist eine gefährliche Gegnerin. Sie trifft uns, sobald wir uns nur schwer wehren können. Sie lässt uns denken, dass alles verloren sei, lässt uns zweifeln, nimmt uns unsere Hoffnung.
Und wenn wir keine Kraft mehr haben, zwingt sie uns in die Kapitulation. Und während der nozizeptive Schmerz mit Waffen bekämpft werden kann, gibt es gegen den psychogenen Schmerz so gut wie nichts.
Wenn wir es schaffen, eine Patt-Situation zwischen nozizeptivem und psychogenem Schmerz und uns herzustellen, werden wir mit dem Endgegner konfrontiert: dem chronischen Schmerz.
Nichts ist brutaler, rücksichtloser und unbezwingbarer als er. Nistet er sich erst einmal ein, braucht man eine Armee, um ihn zu besiegen. Und Kraft. Und Willen. Doch wer hat das noch, wenn nozizeptiver und psychogener Schmerz einen gebrochen haben? Der chronische Schmerz programmiert uns um, installiert eine Endlosschleife aus Leid, aus der es kein Entrinnen gibt, einen immerwährenden Alptraum.
Es ist ein aussichtsloser Kampf, oder?
Wir wohnen in Körpern, die mit Schmerz reagieren. Schmerz schützt uns, Schmerz zerstört uns. Schmerz ist das Paradoxon, das unser Leben bestimmt.
Schmerz holt uns in die Welt – Schmerz, der so brutal ist, dass man schreit. Und dennoch schenken Frauen immer wieder Leben und lassen sich vom Schmerz zerreißen, weil Leben und Schmerz untrennbar sind.
Wir ertragen Schmerz, weil wir lieben. Jedesmal, wenn wir verlassen werden, leiden wir und wollen nur noch sterben. Und dennoch lieben wir immer wieder auf’s Neue, obwohl wir wissen, dass am Ende nichts als Schmerz auf uns wartet. Warum tun wir das? Wir sind ohne Liebe besser dran, oder?
Weil Liebe uns am Leben erhält. Liebe und Leben sind Schmerz.
Aber wenn der Schmerz uns schützt und uns davor bewahren soll, immer wieder in die Falle zu tappen, warum geraten wir dennoch immer wieder in den Hinterhalt?
Vielleicht ist es nicht die Liebe, die uns leben lässt. Vielleicht ist es der Schmerz. Vielleicht brauchen wir den Schmerz, weil wir sonst taub sind und tot. Vielleicht ist der Schmerz das Einzige, was wir wirklich fühlen und alles andere ist nur eine Illusion, die wir brauchen, um nicht aufzugeben.
Ich habe viel gelernt. Für mich ist alles eins. Für mich ist alles Schmerz. Und durch den Schmerz lebe ich, durch den Schmerz gehe ich. Ich habe gelernt, dass ich stärker bin als der Schmerz. Ich wachse über ihn hinaus, habe gelernt ihn zu kontrollieren, ihn zu beherrschen. Ich habe ihm in die Augen geblickt und gesehen…sie sind leer. Und darin liegt meine Macht: er sieht mich nicht, aber ich sehe ihn.
Ich bin durch die Leere gegangen, durch das Feuer, durch die Dunkelheit, durch die Hölle. Ich kann den Schmerz nicht besiegen, aber wir sind Verbündete geworden. Wir kennen uns und respektieren uns. Er lehrt mich, wahrhaftig zu leben – und nicht nur das – sondern auch, was es bedeutet, wahrhaftig zu lieben.